Teil 1: Eine Einführung
Vor über einem Jahr stand ich auf mexikanischen Boden und sah mit eigenen Augen, wie sich an einem herrlichen Sommertag der Mond langsam vor die Sonne schob, die Sonne ganz verfinsterte und eine Atmosphäre verbreitete, die sogar mir Schauer über den Rücken jagte. Wieder einmal machte ich mir Gedanken darüber, was frühere Kulturen beim Anblick solch eines überwältigenden Ereignisses denken und fühlen mußten. Aber nicht nur solch seltene Ereignisse prägten das Verhalten und die Entwicklung früherer (auch schon vergangener) Kulturen, sondern auch der für uns allnächtliche Sternenhimmel. Die Beschäftigung der Menschen mit dem Lauf der Gestirne geht bis auf die jüngere Steinzeit zurück.
Ackerbau als Voraussetzung für Astronomie?
Wahrscheinlich war es die Einführung des Ackerbaus, der mit einer genauen Beobachtung der Jahreszeiten auch deren Festlegung und damit eine Beobachtung der Gestirne notwendig machte. Priesterastronomen setzten nach dem Stand der Sternbilder landwirtschaftliche Termine fest. Zugleich dienten astronomische Kenntnisse der Ausübung von Kulthandlungen, und wurden so zu einem Machtmittel. Die Astronomie ist somit eine der ältesten Wissenschaften überhaupt, zumindest im Hinblick auf das Bestreben, empirische Daten systematisch zu sammeln.
„Der Mond ist zum zählen der Tage geschaffen"
Zu den ersten Erkenntnissen gehörte die Entdeckung, daß viele Himmelserscheinungen periodisch verlaufen. Hierauf beruht die Einrichtung von Kalendern. Der von einem jüdischen Rabbi (im Midrasch) ausgedrückte Gedanke, daß "der Mond zum Zählen der Tage erschaffen worden ist" muß einer ganzen Reihe von Menschen an den verschiedensten Stellen der Welt bereits vor einigen tausend Jahren gekommen sein. Fast überall muß diese Protoastronomie existiert haben, die sich mit dem Zählen der Sonnenaufgänge oder Sonnenuntergänge zwischen den Vollmonden beschäftige. Aber auch die helle, regelmäßige Sichtbarkeit der Venus war von Bedeutung. In Mesopotamien war beispielsweise um 2000 v. u. Z. bekannt, daß die Venus fünfmal in 8 Jahren an denselben Punkt des Himmels zurückkehrt.
Damit aber aus der Protoastronomie die echte frühe Astronomie werden konnte, mußten verschiedene Vorbedingungen erfüllt werden. Die eine war ein Himmel, welcher den größten Teil des Jahres klar war. Die andere Bedingung war, daß wenigstens einige der Stammesmitglieder ausreichend Zeit und Muße hatten, Beobachtungen der Gestirne anzustellen. Noch eine Bedingung war, daß man bestimmte Ereignisse schriftlich festzuhalten vermochte, zwecks späteren Studiums und Weitergabe des gesammelten Wissens an zukünftige Generationen.
Der Lichtwechsel des Mondes, sowie die Wiederkehr der Sonnen- und Mondfinsternisse erregte besondere Aufmerksamkeit. Aufzeichnungen darüber gehören zu den ältesten Denkmälern geordneter Naturbeobachtungen wie sie mit Sicherheit schon von den Babylonier am Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr. durchgeführt wurden. Etwas jünger ist die Astronomie der Ägypter und der Chinesen. Noch jünger die der Mayas.
Sternbilder als Karten der Seefahrer
Die Beobachtung der Sternbilder war besonders für die seit dem 1. Jahrtausend v.Chr. aufblühende Hochseeschiffahrt von Wichtigkeit und förderte das Interesse an der Astronomie. Um 600 v. Chr. traten die Griechen in den Kreis der Völker, die Astronomie betrieben.
Die einzigen Zeugen sind altertümliche Bauwerke (Stonehenge, Machu Pichu, Pyramiden, Observatorien der Mayas usw.), erhaltene Schriftstücke (Maya-Handschriften, Höhlenmalereien usw.) oder sonst. Archäologische Funde (Grabbeilagen, Orakelknochen usw). Leider wissen wir heute nicht mehr viel von der Bedeutung historischer Stätten. Viele Bauwerke sind im Laufe der Zeit verfallen, oder durch Kriege zerstört worden.
Maya-Handschriften ein Werk des Satans?
Genauso verhält es sich mit schriftlichen Überlieferungen, welche mit der Zeit vergilbt sind oder von fanatische Jägern vernichtet wurden. Auch ist uns oftmals die Grundlage einer Bilderschrift (Hieroglyphen) nicht mehr, bzw. nur noch bruchstückhaft bekannt. Von den berühmten Maya-Enzyklopädien (hergestellt vor der "Entdeckung" Südamerikas durch die Spanier) sind beispielsweise nur noch drei von den ursprünglich Hunderten von Handschriften, die in Bibliotheken und Tempelarchiven der Maya gehütet wurden, erhalten. Vieles von der Kenntnis früherer Kulturen wird für immer für uns verborgen bleiben und der Spekulation, die ja bis zu dem Kontakt zu Ausserirdischen geht, Tür und Tor öffnen.
Archäoastronomie als Wissenschaft
Um diesen Geheimnissen auf die Spur zu kommen, hat sich ein neuer Wissenschaftszweig, die sog. Archäoastronomie gebildet.
Viele Wissenschaftler sind immer noch der Meinung, der Nachweis eines astronomischen Bewußtseins unter Kulturen ohne schriftliche Überlieferung sei nur als Nebenerscheinung von Interesse. Diese Einstellung wandelt sich aber, seit immer mehr Beweismaterial die zentrale Rolle nachweist, welche die Astronomie in fast jeder früheren Zivilisation gespielt hat - vor allem bei Ackerbaukulturen am Rande der Existenz. In der Tat könnte der größte Beitrag der Archäoastronomie der sein, daß sie ein Gesamtbild der fortwährenden Beziehung Mensch/Natur liefert. Jonathan Rayman schreibt im "Archäoastronomie Bulletin": "das Fach steht an einem Wendepunkt, das Vorhandensein astronomischer Aufzeichnungen und astronom. ausgerichteter architektonischer Merkmale ist ausreichend nachgewiesen worden. Die Probleme im Hinblick auf die Bedeutung dieser Aufzeichnungen bleiben ebenso, wie der Nachweis, daß die Funde für das Studium vorgeschichtlichen Verhaltens wichtig sind".
Astronomie als Überlebenstechnik
Für den alten Menschen war Astronomie zuerst eine Überlebenstechnik. Wenn er das Hinausschwingen der Sonne an seinem Horizont nach Süden und Norden markierte, konnte der primitive Bauer die richtigen Zeitpunkte für die Urbarmachung der Felder, das Säen und die Ernte feststellen. Sein Leben wurde voll und ganz an den Sonnenzyklus gekettet. Er formte seine Religion, seine Politik und seine Gesellschaftsstruktur auf eine Art und Weise, die uns heute erst klar wird. Archäoastronomie ist ein Mittel, die frühen Kulturen nach diesen Begriffen zu verstehen.
Neben dem Erforschen des Wissens alter Kulturen, suchen die Archäoastronomen aber auch die alten Himmelszeichnungen danach ab, ob sie etwas über die Erde finden können. Urspünglich war das Interesse z.B. an Finsternissen ein rein historisches: Große Ereignisse des Altertums konnten genauer datiert werden, wenn man sie in Zusammenhang brachte mit bekannten Sonnenfinsternissen, die man berechnen konnte.
„Und Sie dreht sich doch", aber immer langsamer
Bei der Analyse von Aufzeichnungen über Sonnenfinsternisse entdeckten Astronomen, daß viele Finsternisse Tausende Meilen von der Stelle entfernt beobachtet wurden, die moderne Berechnungen nahe legten. Offenkundig stimmt etwas hier ganz und gar nicht. Anschließende Versuche haben gezeigt, daß im Laufe der Zeit die Erdrotation abnimmt, so daß die Länge des Tages jedes Jahrhundert um ein paar Tausendstel Sekunden zunimmt. Man hat eine ganze Reihe von Theorien aufgestellt, um die Verlangsamung zu erklären. Sonnengezeiten, die Gezeitenwirkung der Meere, eine Masseverschiebung im Erdkern oder sogar ein allg. Nachlassen der Gravitationskraft im ganzen All. Wenn diese Verlangsamung der Erdrotation groß genug war, könnte eine Sonnenfinsternis, die man über Damaskus erwartet hätte, statt dessen in Neu Delhi gesehen worden sein. Durch die Messung der Verschiebung zwischen einer beobachteten Verfinsterungsbahn und der (wie für eine mit gleichmäßiger Geschwindigkeit rotierender Erde) vorausgesagten Bahn, könnten Astronomen in der Lage sein, das genaue Maß zu bestimmen, in dem die Erde seit dieser Zeit der Geschichte langsamer geworden ist. Alte Aufzeichnungen über Finsternisse könnten Wissenschaftlern auch helfen uns etwas über die Zukunft der Sonne selbst zu sagen.
Die Sonne wird immer kleiner
John Eddy (ein Experte für Astronomie der nordamerikanischen Indianer (gleichzeitig Physiker)) der in alten Aufzeichnungen nach Hinweisen auf das Sonnenverhalten gesucht hat, gelangte durch eine Analyse moderner Sternwartenaufzeichnungen aus England und den Vereinigten Staaten zu einer erstaunlichen Entdeckung. Der Durchmesser der Sonne scheint mit ung. 8 Meilen im Jahr abzunehmen. Angesichts der ungeheuren Größe der Sonne ist das ein kleiner Wert, aber in Begriffen der Energieabgabe von Bedeutung. Um seine Theorie zu überprüfen und sich zu vergewissern, daß die Schrumpfung nicht einfach eine scheinbare Wirkung sei, befaßte Eddy sich mit Aufzeichnungen über Finsternisbeobachtungen aus dem Mittelalterlichen Europa. Er stellte fest, daß Clavius (ein italienischer Astronom) eine Finsternis 1567 über Rom beobachtet und als "ringförmig" beschrieben hatte. Seltsamerweise zeigen moderne Berechnungen (nach der heutigen Sonnengröße) an, daß diese Finsternis eine "totale" hätte sein müssen (wie vorhergesagt). Ist es möglich, daß die Sonne damals ein wenig größer war, so daß ihre scheinbare Scheibe vom Mond nicht ganz bedeckt wurde. Eddy hält das durchaus für eine Möglichkeit. Aber zusätzliche Beispiele anderer unerwarteter und unvorhergesehener ringförmiger Finsternisse müssen noch in historischen Aufzeichnungen gesucht werden.
Die Erkenntnisse der Archäoastronomie bezogen auf verschiedene Kulturen möchte ich in den nächsten Teilen der folg. Ausgaben näher darstellen. Schwerpunktmäßig werde ich auf die alten Kulturen der Ägypter, der Babylonier, der Griechen, der Chinesen, der Indianer Südamerikas, verschiedener Naturvölker und schließlich auf den Sternglauben der Germanen eingehen. Inhaltlich versuche ich immer nach den gleichen Gesichtspunkten zu erörtern. Die Erfassung und die Vorstellung über Zeit und Raum, also Kalenderberechnungen, Geographie, Einordnung der Erde in ein System, die Bewegung der Planeten, schließlich der Sternglaube und die Sterndeutung. Auch berühmte Gelehrte und Astronomen der jeweiligen Kultur sollen vorgestellt werden. Natürlich geschmückt mit Überlieferungen bestimmter Ereignisse.
Autor: Dieter Meyer
Literaturhinweise
Zinner E.: Gesch. der Sternkunde
Ley W.: Die Himmelskunde
Wußing H.: Gesch. d. Naturwissenschaft
Lexikon d. Gesch. d. Naturwissenschaft